Startschuss vor 500 Jahren: Das „September-Testament“
Luthers gelungene Übersetzung des Neuen Testaments
Der turbulente Reichstag in Worms im Frühling 1521, auf dem Martin Luther hartnäckig zu seinen reformatorischen Schriften stand und nichts wiederrief, verhängte über den bereits exkommunizierten Reformator die Reichsacht und erklärte ihn für vogelfrei. Kurfürst Friedrich der Weise ließ ihn daher auf der Rückreise zum Schein bei Eisenach überfallen und ihn sicherheitshalber auf die nahe Wartburg bringen. Als „Junker Jörg“ mit eleganten Bart verbrachte der ritterliche 38-jährige seine Tage auf der altehrwürdigen Festung im Thüringer Wald.
Anfangs fühlte er sich zum Nichtstun verurteilt. Eine innere Unruhe ergriff ihn und er erlitt allerlei Anfechtungen. Von daher stammt die von Fremdenführern frei erfundene Anekdote, dass er mit einem Tintenfass nach dem Teufel geworfen habe; heute noch sei der dunkle Fleck auf der Wand seiner Studierstube zu sehen. Auf Anraten Melanchthons und mit dem kurz zuvor vom Humanisten Erasmus von Rotterdam herausgegeben und griechischen Originaltext ausgestattet, raffte sich Luther auf, statt Trübsal zu blasen, das neue Testament ins Deutsche zu übersetzen. Die 27 Bücher des Neuen Testaments umfassen die vier Evangelien, die Apostelgeschichte, das prophetische Buch (Offenbarung des Johannes) und 21 Briefe, von denen jene des Apostel Paulus die ältesten sind. Die Übersetzung gelang Luther in Rekordzeit von nur elf Wochen. Sein Manuskript erhielt vor der Drucklegung noch den letzten Schliff in Wittenberg, wobei der Griechischprofessor Philipp Melanchthon mitwirkte.
Tatsächlich handelt es sich um ein Jahrhundertwerk, dass vor 500 Jahren im Herbst 1522 als „September–Testament“ erstmals veröffentlicht wurde, große Aufmerksamkeit erzielte und höchste Wirksamkeit entfaltet – obwohl es gar nicht die erste Übersetzung ins Deutsche war. Luthers September-Bibel war rasch vergriffen und musste noch im selben Jahr nachgedruckt werden („Dezember–Testament“). Im nächsten Jahr folgten zwölf weitere Auflagen. Für die Übertragung des Alten Testaments benötigte Luther dann deutlich mehr Zeit, es erschien erst im Jahre 1534. Luthers Gesamtausgabe der Bibel wurde zeitlich von der Herausgabe der „Zürcher Bibel “ der Schweizer Reformatoren im Jahr 1531 überholt. Beim Alten Testament konnte sich Luther in Wittenberg auf einem profunden Mitarbeiterstab stützen. Statt einsamer Arbeit in der Gelehrtenstube war nun Teamwork angesagt.
Die Übersetzung gelang Luther in Rekordzeit von nur elf Wochen.
Dr. phil. Dr. iur. Erwin Schranz
Was trug eigentlich zum großen Erfolg von Luthers „September–Testament“ bei? Es waren mehrere Ursachen ausschlaggebend: Vor Luther gab es bereits – trotz päpstlicher und kaiserlicher „Bibelverbote“ für Laien – 18 Übersetzungen ins Deutsche, die allerdings allesamt damals schon altertümlich wirkten, umständlich geschrieben und schwer verständlich waren. Schon im frühen 9. Jahrhundert war übrigens das Matthäus–Evangelium ins Bairisch-Althochdeutsche übertragen worden: Es ist uns in den „Mondseer Fragmenten“ erhalten geblieben. 200 Jahre vor Luther findet sich dann eine Handschrift mit einer deutschen Bibelübersetzung, die vom so genannten „Österreicher“ stammt und mit volkstümlichen Legenden angereichert ist. In Österreich ist ferner die „Vorauer Volksbibel“ aufschlussreich. Sie wurde auf den Tag genau 50 Jahre vor Luthers Thesenanschlag, also am 31. Oktober 1467, von einem Mönch in ziselierter Handschrift vollendet, war mit 559 kolorierten Federzeichnungen versehen und erzählte die Bibel in Historiengeschichten (nach). Diese Ausgabe mit ihren farbenfrohen Miniaturen ist in bairisch-österreichischer Mundart verfasst und kann im Stift Vorau besichtigt werden.
Kurz davor war 1454 von Johannes Gutenberg der Buchdruck mit beweglichen Lettern erfunden worden. Als erstes gedrucktes Buch der Menschheitsgeschichte druckte er die Bibel, allerdings in lateinischer Sprache – in einer Anzahl von 180 Exemplaren. Luther kam nun zugute, dass mit dem Buchdruck seine Schriften in großer Auflage erscheinen konnten und relativ kostengünstig erhältlich waren. Mit der beginnenden Neuzeit und dem humanistischen Weltbild als Hintergrund stieg in der aufgewühlten religiösen Stimmung die Nachfrage nach der Heiligen Schrift. Luther schien es wichtig, sein Sola Scripture-Prinzip zu verdeutlichen, dass allein die Bibel Quelle und Richtschnur des Glaubens sein könne. Dazu griff er auf den griechischen Originaltext des Neuen Testaments zurück und nicht, wie bisher üblich, auf die lateinische Übersetzung, die Vulgata. Das „gemeine Volk“ sollte nun einen direkten Zugang zu den schriftlichen Glaubenszeugnissen erhalten – was könnte dazu besser dienen, als die Bibel, vor allem das entscheidende Neue Testament, in der Muttersprache zu lesen?
Luther lebte mit der Bibelübersetzung und seinen übrigen Schriften auch den Grundstock für unsere neuhochdeutsche Sprache: Der Reformator wurde gleichermaßen zum Formator der deutschen Sprache. Aufgewachsen in Mansfeld, an der plattdeutsch-mitteldeutschen Dialektgrenze, entwickelte er eine besondere Sensibilität für die Sprache. Er verstand es meisterhaft, die Bildhaftigkeit der biblischen Texte in die aktuelle Lebenswelt zu übertragen. Sein Grundsatz, im „Sendbrief vom Dolmetschen “ 1530 programmatisch niedergelegt, lautete, „den Leuten aufs Maul sehen, wie sie reden und danach dolmetschen.“ Bei aller sprachlichen Genauigkeit orientierte er sich also am Hörer und Leser seiner Worte. Statt Wort für Wort übersetzt er Sinn für Sinn. Er formte, wenn notwendig, völlig neue Wörter und Wendungen, ins Ohr gehende Formulierungen, die große Eigenkraft entwickelten und zu literarischen Sprachdenkmälern wurden. Luthers Sprache zielt nicht nur auf den Verstand, sondern er will bewusst Herz und Gewissen berühren.
Luther entwickelte eine besondere Lebendigkeit der Sprache und eine Annäherung der geschriebenen Sprache an das gesprochene Wort. Das gelang ihm durch seine lebensnahen, manchmal geradezu derben Vergleiche und die flexible Stellung des Zeitwortes im Satzbau, zum Beispiel: „Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über Dir und sei Dir gnädig.“ Luther lässt sprechende Bilder von unserem geistigen Auge erscheinen wie „dienstbare Geister“ oder „einer trage des anderen Last.“
Luther gelangen persönliche Wortschöpfungen, die heute aus unserer Sprache nicht mehr wegzudenken sind: Kleingläubig, Feuertaufe, herzzerreißend, nacheifern, Blutgeld oder Herzenslust. Auf ihn gehen Begriffspaare zurück wie Milch und Honig; ausposaunen oder seine Hände in Unschuld waschen. Auch die Wendung „Unser tägliches Brot gib uns heute“ im Vaterunser machte er populär, denn im Originaltext ist wörtlich (und umständlicher) vom „Brot für die kommenden Tage“ die Rede. Reizend und jedem Kind vertraut ist die Weihnachtsgeschichte und Luthers Wortspiel mit dem Vokal – i –, das besonders beim laut Lesen wirkt: „Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend (Lukas 2,12).“
Der Reformator wurde gleichermaßen zum Formator der deutschen Sprache.
Dr. phil. Dr. iur. Erwin Schranz
Natürlich muss die Sprache der Bibel immer wieder an aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse angepasst werden und spiegelt zeitgenössische Entwicklungen wider. In der Jubiläumsausgabe der Lutherbibel von 2017, an der 70 Fachleute mitwirken, sind so die bisherigen „lieben Brüder“ im Römerbrief 1,13 neuerdings zu „Brüder und Schwestern“ erweitert, weil in den ersten Christengemeinden nachweislich auch Frauen mitwirkten und im Urtext das Grundwort beide Geschlechter umfasst. Luthers September–Testament setzt jedenfalls neue Maßstäbe mit dem Ziel, allen Bevölkerungsschichten die Heilige Schrift nahezubringen. Unsere Sprache wurde nachhaltig bereichert, aber auch eine weltweite Initialzündung gesetzt, gemäß dem „Missionsbefehl“ in Matthäus 28,19 „Darum geht hin und lehrt alle Völker…“ (Nun wieder statt „machet zu Jüngern“ der gültige Text in der Lutherbibel 2017 – wie schon wörtlich im September–Testament von 1522).
Inzwischen kann man das Neue Testament in 1571 Sprachen lesen – als Beweis für die Umsetzung des missionarischen Auftrages in der jeweiligen Muttersprache. Gab nicht Luther dazu schon vor 500 Jahren den unüberhörbaren Startschuss?
Der Beitrag war motiviert durch die Auseinandersetzung des österreichischen Politikers und Juristen
Dr. phil. Dr. iur. Erwin Schranz, der sich mit dem Einfluss des „September-Testaments“ beschäftigte.